Die Flucht (vor) der Gesellschaft Marc Ruef | 27.11.2006 Kinder werden von Kindern vergewaltigt und ermordet. Auch bei uns. Dies ist eben jene Realität, die je länger je mehr durch die Medien an uns herangetragen wird. Der Schock sitzt bei allen sehr tief, wird doch eigentlich die Hoffnung auf bessere Zeiten in eben die Jugend gesetzt. Durch deren Gebahren werden jedoch die Träume einer besseren Welt zerstört. Die Erwachsenenwelt sieht sich mit einem Problem konfrontiert, das sie nicht versteht und vielleicht auch nie verstehen wird. Dieses Problem ist in der Tat unendlich vielschichtig. Einige Politiker zielen in Richtung Ausländerpolitik und Integrationsproblematik. Die europäische Gesellschaft, so macht es für einige den Anschein, ist scheinbar nicht kompatibel mit anderen politischen und religiösen Hintergründen. Im Fall des Amoklaufs in Emsdetten wurden sehr schnell Stimmen laut, die die Medien für die Tat verantwortlich machen. Ein junger Mann im Alter von 18 Jahren hat seine ehemalige Schule mit dem Vorsatz aufgesucht, dort möglichst viele Menschen umzubringen. Mit Rohrbomben und Schusswaffen im Gepäck stürmte er das Gebäude. Er verletzte 37 Personen (Lehrer und Schüler), bevor er sich mit einem Kopfschuss selber richtete. Auf dem Computer des Jugendlichen fanden sich mitunter Computerspiele, die gemeinhin als Ego-Shooter bekannt sind. Die simplifizierte Aufgabe besteht gemeinhin darin, als bewaffneter Polizist oder Soldat ein Kriegsszenario aus der Ich-Perspektive durchzuspielen. Dass dabei die virtuelle Gewalt eine zentrale Rolle spielt, ist nicht von der Hand zu weisen. Für Aussenstehende liegt es deshalb nahe, dass gerade solche Spiele den Schlüsselreiz für die besagte Tat geliefert haben. Verschiedene Politiker warfen deshalb mit Parolen um sich, dass derartige "Killerspiele", wie sie von der Boulevardpresse genannt werden, endlich verboten werden sollen. Dass gerade Deutschland in Europa die grösste Zensur bezüglich Videospielen und Filmen aufweist, wird dabei gänzlich ignoriert. Die Schweiz ist in der Hinsicht sehr liberal. Titel, die in Deutschland nur ab 18 Jahren verkauft werden dürfen, sind hierzulande meistens schon ab 16 Jahren erhältlich. Dennoch werden in der Schweiz statistisch gesehen weniger Amokläufe durch Jugendliche durchgeführt. Kann es also nur an den Spielen liegen? Mitunter berichtete N-TV über die Ereignisse und griff ebenfalls das Thema Computerspiele auf. Dabei wird dem Populismus der Politiker und der Boulevardpresse nachgeeifert. So werden Sätze wie "Psychologen erachten gewalttätige Videospiele als Ursache solcher Taten" von sich gegeben. Dies ist jedoch falsch, denn gerade in der Aggressionsforschung ist man sich seit Jahren uneinig darüber, ob und inwiefern nun der Konsum von vortueller Gewalt in Film und Spielen die ausgelebte Aggression motiviert. Verschiedene Studien berichten darüber, dass die Aggressivität gesteigert werden kann und sich Hemmschwellen zurückbilden können. Dass dieser Effekt jedoch alleine durch ein Videospiel so weit geht, dass effektiv Menschen to Tode kommen, gilt es zu bezweifeln. Selbst von Leuten, die das Lernen am Modell als sehr zentral erachten. Perverse Gewalt gab es schon viele Jahre, bevor der erste Action-Film über den Bildschirm flackerte oder die erste Kettensäge in einem Computerspiel zum Einsatz kam. Das Verhalten einiger Diktatoren, der Holocaust, die Gräueltaten in Kriegen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte, die vereinsamten Serienmörder. Dass die Medien ein Hauptmotiv beim Grossteil der ausgeübten Gewalt eine Rolle spielen, ist statistisch gesehen nicht haltbar. Und tatsächlich wird in diesem populistischen Wahn der wahrscheinlich wahre und extrem komplexe Hintergrund übersehen, ja schon fast ignoriert. Der Täter im genannten Fall wurde scheinbar über Jahre von Mitschülern gedemütigt und geschlagen. In einem Psychologie-Forum bat er zuvor um Beistand und brachte mit eindringlichen Worten seine Ohnmacht zum Ausdruck. Der schulische Druck, der zudem auf ihm lastete - er musste drei Mal die Klasse wiederholen - tat wohl das ihrige. Die Tat wurde vom Täter vorbereitet, angekündigt und dokumentiert. Dabei tauchen in von ihm verfassten Foren-Postings, bereitgestellten Videoclips und Comic-Zeichnungen immerwieder Rachemotive auf. Dies ist ebenfalls ein zentraler Aspekt in seinem Abschiedsbrief (http://www.20min.ch/news/kreuz_und_quer/story/10796209): "Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin. Ich verabscheue Menschen. Ihr habt Euch über mich lustig gemacht, dasselbe habe ich nun mit euch getan, ich hatte nur einen ganz anderen Humor. Ich will, dass sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt. Ich will Rache! Ich hasse euch und eure Art. Ihr müsst alle sterben! Ich bin weg..." Vergeltungsaggression bzw. Rache erscheinen also das Leitmotiv der Tat zu sein. Eine solche gründet sich stets auf einer Ungerechtigkeit, die das Opfer direkt oder indirekt erfährt oder meint erfahren zu haben. Durch die Aggression soll das Gleichgewicht wieder hergestellt werden. Täter ohne weitere Motive oder einen extrem sadistischen Charakterzug lassen sodann, sobald dieses Ziel erreicht wurde, von der Situation ab. Projezierte Vergeltungsaggressionen, die alleine durch Videospiele erzeugt werden, gibt es, sofern der Täter nicht unter akuter Schizophrenie litt, hingegen nicht. Wir stehen hier vor einem sozialen bzw. gesellschaftlichem Problem, wobei die Gewalt in den Medien lediglich als Symptom betrachtet werden muss. Es braucht sehr viel, bis man die Gewalt in einem Spiel im echten Leben nachspielen will und dies auch tut. Das Spiel alleine kann diese Motivation nicht bringen, denn am Ende des Amoklaufs steht meistens Gefängnis oder der Tod. Kein Mensch mit Perspektiven und Hoffnungen würde seine Aggression auf diese Kosten ausleben wollen. Wer jedoch orientierungslos und ohne Ziele lebt, der holt sich halt wenigstens diesen Kick. Gewalt ist lediglich ein Symptom, keine Krankheit. Durch Gesetze die Gewalt verhindern zu wollen, sei dies nun durch harte Strafen oder dem Verbot der Darstellung dieser, bekämpft dabei lediglich dieses Symptom. Die Gesellschaft muss das Problem bei der Wurzel packen. Den Menschen müssen Perspektiven aufgezeigt, Vorbilder geschaffen werden. Die Spirale des Kapitalismus, in dem vorwiegend derjenige den Erfolg erntet, der die anderen überlistet, wiedert einen Grossteil der Mittelschicht und Unterschicht an. Und dies zurecht, obschon damit natürlich noch lange keine Gewalt gerechtfertigt werden kann. Aber vielleicht wird sie damit nachvollziehbarer.