Auch Korruption will gelernt sein Marc Ruef | 23.09.2005 "Hinter jedem Reichtum verbirgt sich mindestens eine kleine korrupte Tat." So oder so ähnlich müssten eigentlich die Schüler unserer Zeit gelehrt werden. In unserem System, dessen Basis das Übertrumpfen der Konkurrenz darstellt, muss innerhalb der Übertrumpfungsspirale irgendwann zu korrupten Mitteln gegriffen werden. Eine ethisch annehmbare Steigerung ist nämlich irgendwann gar nicht mehr möglich. Inmitten meiner Pubertät, mit etwa 16 Jahren, galt ich in der Schule als Rebell schlechthin: Rot gefärbte Haare, zu einem Irokesen-Schnitt zurechtgemacht, zerrissene Hosen und ein verwaschenes T-Shirt meiner Lieblingsbands (z.B. Exploited) war meine Alltagsuniform. Damit protestierte ich nicht wie viele andere "Punks" gegen Anzüge, Krawatten oder teure Autos. Nein, diese Prestigeelemente waren mir eigentlich egal. Viel mehr meinte ich damit gegen eben die Korruption eines aalglatten Systems namens "freie Marktwirtschaft" zu protestieren. Mit zunehmendem Alter lernte ich, dass Konfrontation nur in seltenen Fällen der beste Weg zur Erreichung seiner Ziele ist. Eine Infiltration eines zu vernichtenden Systems erschien zunehmends mit enormen Vorteilen gespickt. So begann ich mich sehr früh aus freien Stücken - halt eben zur Erreichung meiner "Rebellionsziele" - mit Politik, Geschichte und den Medien auseinanderzusetzen. Denn diese Gebiete sollten mitunter das bereitstellen, was es zur Einwirkung auf die Gesellschaft braucht. Bei meiner Lektüre faszinierten mich vor allem grosse Persönlichkeiten, die, obschon offensichtlich durch dunkle Machenschaften definiert, einen enormen Stellenwert in einer Gesellschaft erreichen konnten. Zum Beispiel die psychopathologische Analyse von Hitlers Leben, die durch Erich Fromm in "Die Anatomie der menschlichen Destruktivität" (1973) vorgetragen wurde, offenbarte die Antriebe und Katalysatoren der damaligen Zeit. Obschon Hitler ohne Zweifel als Monster der Zeitgeschichte bezeichnet werden muss, war die strategische Vorgehensweise (abgesehen von den vielen kapitalen Fehlern bzw. der Rückwirkung dieser während des Falls des Dritten Reichs) seiner perversen Verwirklichung von einer gewissen Brillianz... Letzte Woche, bevor ich zu Bett ging, sah ich eine aufgezeichnete Dokumentation des Discovery Channels. In dieser wurde auf höchst interessante Weise der Aufstieg und Fall des kolumbianischen Drogenbarons Pablo Escobar (1949-1993) behandelt. Dieses ambivalente Monster war hochgradig effektiv in der Ausnutzung der Schwachstellen des Systems des damaligen Kolumbiens. Als er in den 70er Jahren, damals mitte Zwanzig, als Kleinkrimineller in den Drogenhandel einstieg, wurde er von der hiesigen Polizei wegen dem Besitz von 19,5 kg Kokain festgenommen. Ein Prozess gegen ihn konnte jedoch nicht angestrebt werden, da der für die Belastung zuständige Polizist auf ungeklärte Weise ums Leben kam. Escobars Ziel war es, der mächtigste Mann Kolumbiens, ja gar der ganzen Welt zu werden. So entschied er sich Anfang der 80er Jahre in die Politik einzusteigen. 1982 wurde er als Abgeordneter in den kolumbianischen Kongress gewählt. Er bemerkte jedoch sehr schnell, dass Politik viel zu aufwendig ist und er die Fäden viel einfacher ziehen könnte, wenn er sich im Hintergrund hält und die Politiker besticht. Die kommenden Jahre wurde er - so schrieb es die Geschichte - tatsächlich zum mächtigsten Mann Kolumbiens. Die Schwachstellen im kolumbianischen System waren offensichtlich, Escobars Dreistigkeit der Ausnutzung dieser aber noch nie dagewesen. Wollte ihn der Staat wegen irgendetwas belangen, hat er zur Waffe des Terrors und der Angst zurückgegriffen. Polizisten, Beamte und Politiker, die sich ihm in den Weg stellten, wurden eliminiert und dies mit einer derartigen Brutalität sowie Kaltblütigkeit, dass dies zum Exempel wurde. Aufgrund der enormen Armut des Volkes konnte er gegen ein paar Tausend Dollar ein Kopfgeld auf Polizisten aussetzen, die sodann von den verarmten Jugendlichen des Landes gejagt wurden. Das System hatte zu diesem Zeitpunkt keine Chance mehr, sich zu regenieren. Armut und Angst waren die absoluten Waffen. Nur mit ausländischer Hilfe - namentlich die US-amerikanische DEA (Drug Enforcement Administration) - konnte das Medellín-Kartell und mit ihm Escobar bedingungslos zu Fall gebracht werden (Danach übernahm das Cali-Kartell den Drogenhandel Kolumbiens. Aber das ist nun eine andere Geschichte.) Dieses Kapitel jüngster und doch schon fast vergessener Geschichte zeigt, wie ausgeklügelte und strategisch perfekt eingesetzte Korruption enormes erreichen lässt. Dagegen erscheinen die "Kleinkriminellen" in unseren Breitengrade - manipulative Politiker und menschenverachtende Unternehmer - als unbeholfene und zaghafte Debutanten. Betrachtet man die ganze Geschichte solcher Verbrecher, sieht man, dass diese praktisch nie mit einem Happyend ausgehen. Die meisten von ihnen wandern hinter Gitter (Saddam Hussein), werden getötet (Benito Mussolini) oder suchen den Freitod (Adolf Hitler). Die logische Implikation des Rebellen in mir ist klar und unmissverständlich: Entweder macht man es besser oder man lässt es bleiben. Letzteres erscheint mir mit mehr, besserem und sichererem Erfolg gekrönt. Vielleicht nehme ich mich aber auch lieber zuerst nochmals "Il Principe" (Der Fürst) von Niccolò Machiavelli an, um noch etwas zu lernen - Die Barmherzigkeit für einen "guten" Fürsten meine ich jedenfalls mitzubringen...