Ich bin alt, oder? Marc Ruef | 16.12.2005 Dienstag, am frühen Abend. Ich nehme gerade ein Bad, als mein Mobiltelefon klingelt. Vorsorglich habe ich es neben die Wanne gelegt, damit ich im Falle eines Anrufs nicht das warme Nass verlassen muss. "Hallo", fragte ich ins Telefon, obschon ich sah, dass meine Freundin mich anrief. Sie fragte, was ich gerade mache und ich sagte, dass ich zusammen mit Verdi ein Bad nehme. "Verdi", fragte sie ganz erstaunt. "Ja, die klassische Fidelei im Hintergrund sind die Streicher nach dem berühmten italienischen Musiker..." Dann sagte sie etwas, was mich verwirrte: "Du bist irgendwie alt..." Was heisst das, ich bin alt? Wieso alt? Ich bin 24, also kann sie nicht mein biologisches Alter gemeint haben. Wahrscheinlich meinte sie mit "alt", dass ich mich wie ein alter Mann benehme. Nur solche hören scheinbar auf noch ältere Italiener. Als sie merkte, dass sie mir mit den besagten Worten nicht gerade einen Blumenstrauss überreicht hatte, versuchte sie das Thema zu wechseln. Ich blieb verwirrt. Es war nämlich nicht das erste Mal, dass mich jemand als "alt" bezeichnet. Eine Bekannte von mir meinte stets, dass ich mich wie ein alter Mann benehme. Und Davor, mein bester Freund, sagt auch immer, dass ich mich nicht immer so erwachsen benehmen soll. Doch wenn ich dann sage, dass ich mich doch eigentlich oftmals kindisch benehme, dann geben sie zu, dass sie sich eigentlich geirrt hätten. Dass ihnen dies einfach nur rausgerutscht sei. Aber wie Freud in seinen psychopathologischen Schriften zum Alltagsleben so schön postulierte: "In jeder Aussage steckt ein gewisses Mass an Wahrheit." Ja, es stimmt. Ich mag Mozart, spiele Violine und zähle Schiller zu einem meiner liebsten Dichter. Aber zeitgleich mag ich Soundgarden, kann (fast) alle Lieder von Metallica auf der E-Gitarre spielen (nur bis und mit Load-Album) und lese zwischendurch die Bild-Zeitung. Ich mag verschiedene Betrachtungsweisen, unterschiedliche Philosophien und abwechslungsreiche Alternativen. Nicht, dass ich besser wäre weder andere. Nein, bei mir fällt es vielleicht nur eher auf, da ich mich phasenweise und sehr intensiv mit einer Sache beschäftige. Immer wenn mich jemand fragt, was mich an einer Frau besonders anmacht sage ich: "Wenn sie mich nicht verurteilt." Und so sollte es sein, dass man nicht irgendwelche Schlüsse zieht, nur weil jemand einen bestimmten Charakterzug hat. Nur weil jemand Mozart mag heisst es nicht, dass er nicht an ein Soulfly-Konzert gehen würde. Und nur weil jemand Mathematik mag, heisst es nicht, dass er sich nicht für Menschen interessiert. Die Welt wäre zu einfach und damit langweilig, könnten derlei Implikationen unmittelbar und zweifelsfrei umgesetzt werden.