Masse und Trägheit Marc Ruef | 13.02.2006 Man muss keineswegs Physik studiert oder die allgemeine Relativitätstheorie verstanden haben, um die grundlegenden Zusammenhänge zwischen Masse und Trägheit verstehen zu können. Ein ruhender Körper braucht umso mehr Energie, um ihn in Bewegung zu versetzen, je mehr Masse er aufzuweisen hat - Trägheit bezeichnet also den Widerstand, den ein Körper der Veränderung seines Bewegungszustands entgegensetzt. So ist das jedenfalls auf unserem Planeten und in dieser Dimension. Die Begrifflichkeiten von Masse und Trägheit sind aber auch dann Objekte einer Diskussion, wenn sich diese um Menschen und ihre Projekte handelt. Verblüffende Parallelen zwischen Physik, menschlicher Psychologie und sozialem Verhalten sind dabei festzustellen. Bei meinen Beobachtungen der Prozesse von Projekten und der kulturellen Entwicklung des Internets bin ich über einige Erkenntnisse gestolpert, die ich nun folgend darlegen möchte. In den letzten Jahren habe ich viel Zeit in die Initiierung, Betreuung und Umsetzung von Projekten investiert. Bestes Beispiel ist meine Webseite computec.ch, die nunmehr im neunten Jahr mehr oder weniger in ihrer jetzigen Form existiert (zuvor war das Projekt unter anderen Namen bekannt und unterschied sich ein bisschen in Form und Ausrichtung). Anhand einer üblichen Zeitachse lässt sich die Entwicklung des Verhaltens des "durchschnittlichen Internet-Benutzers" illustrieren. In den Jahren 1997 bis 2000 konnte eine gewisse Offenherzigkeit und ungebrochene Neugierde bemerkt werden. Jedeer genoss es, sich im jungen Medium zu bewegen, um auf seinen Datenreisen stets neue Dinge zu erfahren. Projekte schossen wie Pilze aus dem Boden, denn das Neuland gewährte einen ungemein fruchtbaren Grund. Wer ein Projekt starten wollte, der gab dies bekannt und es war nur eine Frage der Zeit, bis er seine Gruppe williger Mitstreiter um sich gesammelt hatte. So um 2002/2003 war eine gewisse Resignation zu verspüren. Die Leute hatten langsam "alles" gesehen und die Motivation, etwas neues zu bewerkstelligen, entsprechend gering. Neue Projekte liefen nicht oder nur schleppend an. Wer etwas umsetzen wollte, musste es wirklich selbst in die Hand nehmen und seine Mitstreiter fortwährend motivieren können. Diese Degeneration der Unternehmungslustigkeit ist seitdem auf einem Tiefpunkt stagniert. Die Zunahme der Masse (Nutzer) hat zu einer immer grösseren Trägheit geführt. Doch nicht nur die kulturelle Entwicklung des Massenmediums Internet übt Einfluss auf Projekte aus. Auch ein Projekt ansich kann dynamische Entwicklunsprozesse aufweisen, stet es gar in direkter Wechselwirkung mit diesem. Ganz kleine Projekte werden meist von Einzelkämpfern betreut. Vielleicht, wenn sie Glück haben, können sie im näheren Umfeld einen weiteren Mitstreiter für sich gewinnen. Hat ein Projekt seine ersten Bewährungsproben bestanden und ist noch weiteres Potential vorhanden, werden plötzlich viele Leute mithelfen wollen. Dies sind meist wirklich Leute, die sich für etwas begeistern können und die Idee zu einem Ziel führen wollen. Der Umfang der Zusammenarbeit wird anwachsen. Sodann wird es auf einmal "Trittbrettfahrer" geben, die den Erfolg des Projekt bewundern, diesem geringfügig was beisteuern und damit auch von diesem profitieren wollen. Ist der Kern des Projekts von ungemeiner Bodenständigkeit und wird das Ziel auch weiterhin effizient verfolgt - falls alle Beteiligten genügend Ausdauer und Willenskraft haben - kann eine überdurchschnittlich gute Qualität erreicht werden. Eine Qualität, die ein Einzelkämpfer nie alleine erreicht haben könnte. Jetzt kommt, dies verwundert doch eher, einer der kritischsten Punkte für ein Projekt. Und zwar ist das Mehr an Umfang und Qualität eine Abschreckung für weitere Mithilfe. Viele Leute denken sich, dass das Projekt schon zu gross oder bekannt ist, so dass man nur ungern einem potentiellen Monopolisten etwas in die Hände spielt. Oder man zweifelt an seinen eigenen Fähigkeiten und denkt sich, dass man doch sowieso bei einem solch tollen Unterfangen nichts gescheites beisteuern könnte. Das Nessus Projekt (http://www.nessus.org) ist ein sehr gutes Beispiel hierfür. Renaud Deraison als Initiator hat mit sehr viel Kleinarbeit seine Idee vorangetrieben. Er konnte einige Entwickler für sich gewinnen, die ihm wenigstens bei der Umsetzung neuer Plugins zur Seite stehen wollten. Aber als Nessus plötzlich als einer der wichtigsten Scanner der Neuzeit galt, wollte sich niemand mehr wirklich für eine aktive Mitarbeit begeistern. Er selbst war einer der wenigen, der kontinuierlich neue Plugins schrieb. Es ist in der Tat zu bedauern, dass die Entwicklung des Internets es praktisch unmöglich gemacht hat, mal eben schnell ein paar Leute für seine "lustige Idee" zu gewinnen. Abgestumpftheit und Resignation machten sich breit und so ist nur noch mehr selten jemand gewillt, bei jemandems Projekt mitzuhelfen. Aber auch die evolutionäre Entwicklung eines Projekts selber kann es unter Umständen immer schwieriger machen, neue Leute für sich zu gewinnen. Auch hier gilt also der physikalische Grundsatz, dass mit Masse stets auch Trägheit einher geht.