Die Kunst des Schreibens von Fachbeiträgen Marc Ruef | 14.08.2006 Vor einigen Wochen habe ich als Auftragsarbeit einen Fachartikel für ein internationales Magazin verfasst. Darin beschreibe ich ein Thema, das schon längere Zeit im Bereich des Auditings genutzt wird. Jedoch eher experimentell und noch nicht vollständig in die üblichen Auswertungsprozesse integriert. Ich war ziemlich stolz auf meine Zeilen, illustrieren sie das jungfräuliche Thema in schönster und (auf Deutsch) noch nie dagewesener Weise. Meines Erachtens einer der besten fünf Artikel, die ich in den letzten 10 Jahren verfasst habe. Die Kritiken der deutschen Fachlektoren waren sehr gut. Nach einiger Zeit erhielt ich ein Email einer Lektorin, die sich für die englische Übersetzung des Magazins verantwortlich zeichnet. In diesem Schreiben werde ich auf einige "Fehler" hingewiesen, die man vor einer Publikation gerne korrigiert haben möchte. So entwickle ich zur Illustration zusammen mit dem Leser eine Software, die die diskutierte Technik automatisieren können soll. Der englische Fachlektor bemängelte, dass diese Umsetzung viel schlechter sei, weder die gegenwärtigen Implementierungen. Ich sollte deshalb den kompletten Artikel umschreiben, da der Kern dessen nicht von Wert sei. Meine Reaktion war nicht sonderlich diplomatisch, dafür ehrlich: Ich stimmte meinem Gegenüber nicht zu und weigerte mich, die Anpassungen zu machen. Werden Änderungen ohne mein Einverständnis angestrebt, ziehe ich den Beitrag per sofort zurück. Meine Argumentation erscheint mir in diesem Belang hieb und stichfest: Meine Abschrift soll ein Thema, das bisher lediglich Experten zugänglich war, auf eine einfache Art und Weise vermitteln. Das Zielpublikum sind dabei fortgeschrittene Benutzer, die sich aufgrund der Komplexität der Theorie nicht an die Sache herantrauten. Um das Wissen vermitteln zu können, wird das Thema didaktisch wertvoll aufbereitet. Dies erfordert, dass eine gewisse Reduzierung der reellen Gegebenheiten stattfindet, um den Leser nicht mit unsinnigen Details abzulenken. Soll ein Programm-Quelltext abgedruckt werden, muss das ja nicht zwingend als Assembler-Code geschehen und sämtliche Features eines professionellen Produkts diskutieren, um damit die Komplexität der Lösung betonen und die Effizienz in höchstem Masse demonstrieren zu können. Durch das Heranziehen eines simplen Shell-Skripts wird die Sache dann eben auch durch die weniger versierten Programmierer verstanden. Die paar wenigen abgedruckten Zeilen beschränken sich auf das Herz der Idee. Die im Artikel zusammengefassten Informationen werden damit weitaus mehr Menschen zugänglich gemacht - Der intelligente Leser wird sich die Erweiterungen schon selber erarbeiten können. Johann Wolfgang von Goethe schrieb einmal: "Nichts ist schrecklicher als ein Lehrer, der nicht mehr weiss als das, was die Schüler wissen sollen." Viele Autoren, Dozenten und Lehrer begehen den Fehler, dass sie fortwährend ihre Überlegenheit demonstrieren wollen. Durch möglichst komplexe Gedankenkonstrukte soll in erster Linie der eigene Vorsprung aufgezeigt werden. Das Vermitteln des Wissens und das Erweitern des Horizonts des Zuhörers tritt dabei in den Hintergrund. Aber nur weil eine Information verständlich ist, muss sie und deren Übermittler nicht von minderer Qualität sein. Die Schwierigkeit beim Lehren besteht nicht im Wissen von Details, sondern im Verständlichmachen von Ideen. Was macht also eine gute Fachpublikation aus? Einerseits sind dies besonders neuartige, innovative und progressive Ideen. Albert Einsteins erste Aufsätze zur speziellen Relativitätstheorie gehören dazu. Aber gerade weil seine Sicht der Dinge so neu war, war sie nur wenigen Spezialisten zugänglich (teilweise nicht mal diesen; der Nobelpreis wurde ihm jahrelang aus Unverständnis verwehrt). Mit der Popularisierung des Neuen wird das Neue zum Alten, verliert aber dadurch nicht zwingend an Wert. Sigmund Freuds Schriften waren für damalige Verhältnisse besonders Populistisch. Ohne diesen Wesenszug hätten Worte wie Neurose oder Unbewusstsein keinen Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch halten können. Der moderne Mensch wäre sich den Hintergründen nicht in solchem Umfang bewusst, wie heute. Die "besten" Informatiker (oder Wissenschaftler generell) sind meines Erachtens jene, die ihre progressiven Denkweisen auch mitteilen können. Bestes Beispiel ist W. Richard Stevens. In seinem Klassiker "TCP/IP Illustrated, Volume 1: The Protocols" vermittelt er leicht verständlich und umfassend die Architektur moderner Netzwerke. Das Buch erschien Mitte der 90er Jahre, zog jedoch Informationen heran, die Teilweise über 20 Jahre alt waren. Die Grundlage von Stevens Buch sind die Arbeiten, wie sie vorwiegend durch Leute wie Jon Postel in den RFCs dokumentiert wurden. Stevens hat eigentlich keine neuen Dinge in seinem Buch besprochen. Viel mehr hat er die trockenen RFCs in einen unterhaltsamen Kontext gebracht und damit auf einer Meta-Ebene die Information besser zugänglich gemacht. Sein Buch lege ich auch heute noch jedem ans Herz, der sich für TCP/IP interessiert. Und dies wahrscheinlich auch noch im Jahr 2015, wenn es selbst über 20 Jahre alt ist. Ein anderes Beispiel ist Donald E. Knuth, dessen erster Teil der Serie The Art of Computer Programming vorwiegend auf Informationen klassischer Arithmetik beruht. Selbst seine Diskussionen zur MIX-Architektur (später MIMIX) war beim Erscheinen der ersten Bände schon archaisch anmutend, wie der Autor selber zugab. Aber um das Verständnis für die Materie der Prozessor- und Assembler-Funktionsweise zu festigen, war das überholte Design gut genug. Es bleibt für mich fragwürdig, wie jemand zum Beispiel behaupten kann, dass eine Publikation aus dem Jahr 1998 auf computec.ch nichts zu suchen hat, weil die Informationen nicht mehr in der Praxis angewandt werden können. Nur weil sich die besprochen Dinge nicht mehr einfachso umsetzen lassen, ist der Gedanke ansich nicht "veraltet". Er ist aus historischer und akademischer Sicht auch weiterhin von Interesse. Neuere Publikationen bauen eventuell direkt oder indirekt darauf auf. Dessen und des anvisierten Zielpublikums muss man sich zwingend bewusst sein, bevor man Kritik übt. Andernfalls offenbart man lediglich seine eingeschränkte Sicht der Dinge. Würden aus den Bibliotheken sämtliche Informationen verschwinden, die nicht neu und schon überholt sind, stünden wohl nur etwa 20 Bücher zur Auswahl. Diese würde aber niemand verstehen, weil der Hintergrund, der in den vermeintlich veralteten Werken erarbeitet wurde, nicht mehr zugänglich ist. Neophiles Verhalten ist wünschenswert, sollte aber nicht auf Kosten historischer Arbeiten gehen. Nur wer die Vergangenheit versteht, kann mit der Gegenwart umgehen und sich für die Zukunft rüsten.