Es ist schön zu verstehen Marc Ruef | 07.07.2008 Schon im Kindesalter habe ich begonnen, mich für die Psychoanalyse zu interessieren. Durch Sigmund Freuds Schriften zur Traumdeutung bin ich irgendwann über die Abhandlungen seiner psychopathologischen Betrachtungen im Alltagsleben gestolpert. Der Mensch, sein Denken und wie es funktioniert, hat spätestens seit dann eine enorme Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Deren Unbändigkeit hat dazu geführt, dass ich mich zunehmends und fortwährend mit den psychologischen Hintergründen der menschlichen Verhaltensweise, auch in soziologischer Hinsicht, auseinandergesetzt habe. Mitunter auch deshalb, um mich vor unliebsamen Überraschungen schützen zu können. Durch das gegebene Interesse fokussierte ich mich zwischenzeitlich ebenso auf psychische Störungen grösseren Ausmasses. Das neurotische Verhalten und die Schizophrenie als solche waren Themen, denen ich eine unglaubliche Leidenschaft entgegengebracht habe. Als ich mit 16 Jahren davon hörte, dass der vermeintlich grösste Philosoph des letzten Jahrhunderts, namentlich Friedrich W. Nietzsche, an Schizophrenie lidt und an "Gehirnverweichlichung" zugrunde ging, wollte ich mir unbedingt eine Biographie zu seiner Person zu Gemüte führen. Ich glaubte mit der Durchsicht seines Lebens ein Verständnis dafür erlangen zu können, welche äusseren Einflüsse gegeben sein müssen, um derartige Erkrankungen auslösen zu können. Also quasi der indirekte Schritt zur umfassenden Epikrise. Mit höchster Aufmerksamkeit verfolgte ich die Ausführungen jenes Büchleins, das ich mir von der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Zu meinem Erstaunen war Nietzsche eine besonders faszinierende Persönlichkeit, die durch ihre verworrene Vielschichtigkeit erst sehr viel später als Grösse der Philosophie anerkannt werden sollte. Die wohl grösste und nie in Frage gestellte Liebe Nietzsches war das Lesen. Eine Unmenge an Büchern hat er verschlungen, sie mit Notizen und Kritzeleien der Nachwelt hinterlassen. Er war ein Konsument klassischer Philosophie (vornehmlich griechische Denkweise, nur wenig von römischen Philosophen), der nur dank dem zu einem Produzent neuzeitlicher Philosophie werden konnte. Als ich die Passagen, die sich diesem Wesenszug Nietzsches annahmen, durchlas, wurde mir eines klar: Die Welt steckt voller Rätsel, die teilweise schon seit Beginn der Zeit bestehen. Schon so mancher Denker hat sich in sie hinenfühlen wollen, dies vielleicht gar schon geschafft und seine Erkenntnisse für die Nachwelt festgehalten. Es liegt nun nur noch an den Nachfahren, die dokumentierten Weisheiten einzusehen, aus ihnen zu lernen und sie weiterzuentwickeln. Die Welt steckt also nicht nur voller Rätsel, sondern auch voller Antworten, die eigentlich nur noch gefunden werden müssen. Mit dieser Erkenntnis setzte bei mir ein enormer Lesedrang ein. Dem Fernsehen gänzlich abgeschworen las ich teilweise bis zu drei Bücher pro Woche. Und zwar nicht bloss irgendwelche seichte Belletristik. Nein, viel mehr war ich an klassischer Literatur (Dante, Schiller, Shakespeare) und Abschriften zu Naturwissenschaften (Aristoteles, Feynman, Fromm) interessiert. Die Schönheit des Lesens besteht für mich darin, etwas zu verstehen. Der Ausspruch "Ich denke, also bin ich" (Cogito ergo sum) des Philosophen René Descartes sollte mehr Wahrheit in sich bergen, als ursprünglich durch mich angenommen. Auch heute noch bin ich in grösster Erregung, wenn ich eine (neue) Sache betrachten darf und sie verstehen will. Dies können vermeintlich einfache Dinge sein, wie zum Beispiel das Verhaltensmuster von Tauben, die sich an einem Bahnsteig ihrer Nahrungssuche widmen. Aber auch theoretische Konstrukte wie die Diskussion zu Speichersegmenten in IA-32 Architekturen tragen mich schlussendlich immerwieder zur Freude. Die gegebene Leidenschaft ist schon fast zur Sucht geworden. Es ist sehr schwer für mich, einfach mal nichts zu tun. Einerseits dankbar, leide ich manchmal ein bisschen darunter. So ist es stets gegeben, dass ich mit einer ungeheuren Müdigkeit gestraft bin. Vor allem der Urlaub in einem fremden Land setzt mir in der Hinsicht überdurchschnittlich zu. Dass ich dann mal eben bis zu 16 Stunden schlafen kann, obschon ich ja eigentlich nur "fauler Tourist" gespielt habe, ist dann keine Seltenheit. Denken tue ich am liebsten an einem altbekannten Ort, an dem sich die äusseren und damit ablenkenden Reize in Grenzen halten. Dies soll mich aber nicht davon abhalten zu geniessen, dass ich das Glück habe, viele Dinge dieser vielfältigen Welt betrachten und verstehen zu dürfen. Ich freue mich schon darauf, über das nächste Rätsel stolpern zu dürfen. Auch wenn ich es vielleicht weder umfänglich verstehe noch lösen kann, so erfreue ich mich im mindesten an seiner Komplexität. Auch wenn ich nach Aussen nur selten den Anschein erwecke, bin ich genau ob dieser immerwährenden Fröhlichkeit grundsätzlich stets zufrieden - Wenn auch nur für wenige Augenblicke.