Denkstrukturen Marc Ruef | 21.07.2008 In einer der vielen Sherlock Holmes Geschichten postuliert der Meisterdetektiv, dass das Gehirn wie ein Dachboden sei. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Möbeln, die darin Platz hätten. Und man will seinen Dachboden (in der Schweiz sagen wir Estrich) doch nicht mit unnötigem Gerümpel vollstopfen. Ich mochte diese Aussage. Vielleicht deswegen, weil ich eine unendliche Vergesslichkeit, wahrscheinlich durch meine beiden Eltern geerbt, mit mir herumtrage. Aus Sicherheitsgründen erhält ein jeder unserer Kunden ein Pseudonym. Ein Grosskunde könnte zum Beispiel "Auto" genannt werden. Die jeweiligen Projekte, sind sie denn etwas grösser, wären dann zum Beispiel Ferrari, Porsche und Bentley. Und kleinere Projekte würden Golf, Volkswagen oder Audi heissen. usf. Wie immer konnte ich mir mal wieder nicht merken, wie der von mir soeben bearbeitete Kunde mit Pseudonym hiess. So durchstöberte ich also unseren Dateiserver nach einem Namen, der mir bekannt vorkam. Meistens wenn ich das Pseudonym sehe, dann fällt mir sofort ein, welcher Kunde es war. Mindestens 10 Minuten durchsuchte ich also die Verzeichnisstruktur nach irgendeinem Hinweis. Plötzlich drehte ich mich zu Stefan um und sagte: "Sehr gut. Mittlerweile habe ich sogar vergessen, warum ich den Kunden gesucht habe!" Vergesslichkeit ist schon was schlimmes. Sie hat aber auch ihre guten Seiten. Nein, ich will hier nicht auf das geminderte Risiko neurotischer Verhaltensweisen eingehen. Viel mehr hat es damit zu tun, dass ich zum Beispiel gar nie in Frage komme, jemandems per Zufall erfahrenes Passwort zu missbrauchen: Ich vergesse ja selbst meine eigenen Passwörter, wie soll ich dann auch noch diejenigen anderer gebrauchen können? Der entscheidende Vorteil meiner Vergesslichkeit ist jedoch, dass ich aufgrund dieser enorm systematisch vorgehen muss. So mag ich Linearität ungemeint. Dinge müssen in einem sequentiellen Batch-Modus (FIFO) abgearbeitet werden. Ich kann mich wohl an die komplexesten Probleme wagen. Sofern ich diese in einer geordneten Reihenfolge angehen kann. Dies hat mitunter dazu geführt, dass ich eine Reihe sonderbar erscheinender Techniken für die Arbeitsbewältigung und Erinnerung entwickelt habe. So kann ich mir sehr gut Telefonnummern merken. Nein, nicht die Nummern selbst, sondern quasi ein Pseudo-Hash dieser. Ich merke mir die Vorwahl und die letzten beiden Ziffern. Die Chancen sind sehr gering, dass ich zwei Leute kenne, die die gleiche Vorwahl und die gleichen letzten zwei Ziffern haben. So muss ich mir anstelle einer Nummer wie 044 445 18 18 nur die Nummernfolge 44-18 merken. Das ist sehr einfach, selbst für mich. Wie bei jeder One-Way Funktion habe ich aber auch hier das Problem, dass ich Nummern nur erkennen, sie jedoch nicht generieren kann. Was solls, ich telefonier eh nicht gerne! Zahlenfolgen merke ich mir sodann als Muster auf einem Number Pad. Die Telefonnummern meiner besten Freunde sind alle entweder quadratisch oder sternförmig. Oder halt etwas dazwischen. So habe ich mir auch die erste auswendig gelernte Telefonnummer, nämlich diejenige meiner Grossmutter, gemerkt. Selbst heute noch habe ich Probleme, die Nummer aufzuschreiben. Ich kann aber innert Sekunden das Muster aufzeigen. Zur Erkennung der Nummer besinne ich mich übrigens an 56-65. Symmetrie mag ich ganz besonders! Daten gleicher Wertigkeit, zum Beispiel Attribute von Gegenständen oder Einkaufslisten, speichere ich in einer zweidimensionalen Matrize. Meistens hat diese nur zwei Spalten und auch hier arbeite ich mit "Hash-Werten". Handelt es sich um weltliche Dinge, merke ich mir Symbole einzelner Gegenstände. Dabei benutze ich entweder die Silhouette des Gegenstandes (das ist bei einem Ei nicht sehr schwer) oder irgend einer auffälligen Gegebenheit (z.B. die Radkappen eines Autos). Muss ich mich an gewisse Einzelheiten erinnern, greife ich auf die Mengenlehre zurück. Habe ich beispielsweise Zahnpasta zu kaufen, denke ich an mein Badezimmer, die Ablage und die Gegenstaende darauf. Dann Subtrahiere ich alles, was ich weiss, dass ich es noch habe, um dann auf das zu kommen, was mir fehlt. Diese Technik von Differenz und Komplement funktioniert ganz gut. Wenn auch sie in gewissen Situationen nicht gerade die beste Performance zu gewährleisten in der Lage ist. Meine Systeme sind leider unnötig komplex, das muss ich eingestehen. Und so kann es durchaus vorkommen, dass mir gewisse Leute nachsagen, ich sei noch immer ein verwirrter und verschrobener Kopf. In gewissen Situationen mag dies stimmen. Doch ich bin froh, dass ich mich an gewisse Sachen erinnern kann. Übrigens vergesse ich Dinge nie, die mir Freude oder Leid bereitet haben. Es scheint, als sei es also mein Herz, das für die wichtigsten Erinnerungen zuständig bleibt.