Von Zensur und Doppelmoral Marc Ruef | 01.02.2010 In frühester Kindheit habe ich mich mit Träumen auseinandergsetzt. Fortwährend von wirren Geschichten verfolgt, stiess ich schon bald auf die jeweiligen Schriften Sigmund Freuds. Durch die Sekundärliteratur zu seinen Traumdeutungen in meinem Interesse bestärkt, begann ich mich alsbald für den Mann hinter den Analysen zu interessieren. Die Biographie des Juden Freuds war eine der ersten, die ich gelesen habe. Durch die Hintergründe seines Lebens beschäftigte ich mich bald mit dem Dritten Reich. Dass zur damaligen Zeit Greueltaten im Sinne der nationalen Politik vorangetrieben wurden, bestreiten heute wohl nur noch die wirrsten Geister (Holocaustleugnung). In ganz besonderer Weise hat mich eine eigentlich doch eher unspektakuläre Aktion der Nazis erschüttert: Die Bücherverbrennung von 1933 auf dem damaligen Opernplatz. Bücher, die von Untermenschen oder solchen, die mit diesen sympathisierten, geschrieben wurden, wurden den Flammen geopfert. Damit brachten die Mannen unter Adolf Hitler die Verachtung zum Ausdruck, die sie diesen Arbeiten beizumessen pflegten. Und, vielleicht war es so, sollte dieser Akt die in vielen Bereichen überragenden Leistungen der Untermenschen zu unterdrücken in der Lage sein. Man wollte ja schliesslich nicht eingestehen, dass auch "das minderwertige Volk der Juden" zu guten Leistungen fähig sei. Erschüttert war ich im Herzen. Damals wie heute ist es mir unbegreiflich, wie eine Gesellschaft ihren Hass in so plumper Weise auf eine Gruppe fokussieren kann, in der Hoffnung, damit die sozialen Probleme ihrer Zunft zu lösen. Die Bücher von Grössen wie Thomas Mann, Albert Einstein oder Erich Kästner hatten wohl nur wenig damit zu tun, dass Europa zu dieser Zeit so war, wie es halt eben zu sein schien. In der heutigen Zeit wird eine anderen Form der "Bücherverbrennung" gewährt. Totalitäre und pseudo-demokratische Staaten folgen dem Prinzip der Informationszensur auch auf digitaler Ebene. Populärstes Beispiel die Volksrepublik China, in der Zugriffe auf IP-Adressen limitiert und Webseiten gefiltert werden. Die Daten werden also durch eine Firewall verbrannt - Eher still und heimlich, weder pompös und werbeträchtig. Der Iran tat es bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen gleich, stellte sich denn schnell heraus, dass vor allem Twitter das unliebsame Tor zur freien Meinungsäusserung aufstossen sollte. Frei nach dem Postulat Immanuel Kants, dass die Erkenntnis ein Erzeugnis aus These, Antithese und Synthese darstellt, kann das Einschränken des Informationsaustauschs eigentlich nie der Wahrheitsfindung dienlich sein. Derjenige, der Zensur anstrebt, will also die Verbreitung der Wahrheit verhindern, um sich wohlmöglich selbst einen Vorteil zu verschaffen. China ist nicht das einzige korrupte System, das mit derartigen Mitteln gegen die Oppositionen vorzugehen pflegt. Mit Vladimir Putin und Silvio Berlusconi haben auch Europa ihre Medien-Diktatoren. Informationsfreiheit ist also wichtig und richtig. Immer? Obschon Zensur in westlichen Ländern (z.B. in Deutschland die "Vorzensur") per Gesetz untersagt ist, kommen unter dem Deckmantel von Jugendschutz und der Rassismus Strafnorm immerwieder derartige Vorgehen zum Tragen. Die Liste der zensierten und auf dem Index festgehaltenen Publikationen ist lang. Meines Erachtens bleibt es fragwürdig, ob Titel wie "Mein Kampf" des ehemaligen Reichskanzlers wirklich verboten sein sollten. Derjenige, der sich kritisch mit dem Werk auseinandersetzen möchte, der solle dies tun. Dann wird er die Hintergründe und Widersprüche selber erfahren und damit die Synthese seiner Erkenntnis erlangen können. Eine Zurückhaltung der Informationen als Bevormundung des Bürgers bleibt nicht wünschenswert. Wer dem widerspricht, zweifelt an der Mündigkeit des Volkes. Verständnis für "Zensur" zu Gunsten des Jugendschutzes, wo er denn angebracht ist, kann ich eher aufbringen. Es erscheint mir klar, dass pornographisches Material der härtesten Sorte nicht Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden sollte. Doch, so frage ich mich, wieso seit jeher der anonyme Bezug von Zigaretten über entsprechende öffentliche Automaten gebilligt wird, obschon die negativen Auswirkungen klar belegt sind. Sämtliche Gesellschaften sind geprägt durch Doppelmoral. Ein Suizid gilt im Islam (wie auch im Christentum) als Sünde. Dem Sündiger würde der Eintritt ins Paradies verwehrt bleiben. Durch einen Freitod innerhalb eines Heiligen Kriegs die "Feinde des Glaubens" mitzureissen, wird jedoch von Extremisten als lobenswerte Aufopferung verstanden. Als Belohnung würde das Paradies und haufenweise Jungfrauen warten. In anderen Gruppen gilt die aufrichtige Selbsttötung als Ehre und letzter Ausweg. Der heldenhafte Suizid wird in der traditionellen asiatischen Kultur der erniedrigenden Gefangennahme vorgezogen. Die Handlung ist stets die gleiche. Vielleicht auch die Absichten. Aber das Umfeld bestimmt, ob die Tat verachtens- oder lobenswert bleibt. Ort und Zeit haben Einfluss darauf, in welchem Licht die Dinge erscheinen. Die Juristen und Politiker werfen in einer Diskussion zu komplexen Themen gerne den Begriff der "Verhältnismässigkeit" in den Raum, um Entscheide und Handlungen zu rechtfertigen. Dass diese Relationierung jedoch von höchst subjektiver Natur ist, wird nur selten öffentlich zugegeben. Ein böser Nachgeschmack von Willkür bleibt. Was vor 50 Jahren als schicklich galt, wird heute verpönt, vielleicht gebilligt. Und genauso wird es uns in 50 Jahren ergehen.