Etikette in der öffentlichen virtuellen Realität Marc Ruef | 21.03.2011 Es gibt Menschen, die haben eine umfangreiche Erziehung genossen. Ich würde mich zu diesen zählen, denn beide meiner Eltern haben grossen Wert darauf gelegt, dass wir Kinder uns zu benehmen wissen. Zwar wurde nicht durchgängig auf ein Verhalten nach Knigge gepocht. In streitbaren Situationen hat mein Vater aber stets mit Nachdruck darauf verwiesen, wie man sich einer "gehobenen Gesellschaft" zu verhalten hätte. Eine gute Kinderstube konnte nicht jeder für sich in Anspruch nehmen. Oder die Erinnerungen an jene verblassen im Alter, ich weiss es nicht. Es muss aber ein Grund dieser Art sein, dass viele Zeitgenossen sich nicht zu benehmen wissen. Dies äussert sich unweigerlich da, wo Menschen aufeinander treffen. Also im öffentlichen Raum, besonders im Öffentlichen Verkehr. Das Informationszeitalter hat dazu geführt, dass ein computergestütztes Leben für jederman zum Alltag wird. Nur die wenigsten können noch ohne Computer, Laptop, Handy, Tablet oder MP3-Player auskommen. Ständig ist man von elektronischen Geräten umgeben und erfreut sich an den Möglichkeiten, die sich durch diese erschliessen. Doch jene Leute, die keine Erziehung genossen haben, tun dies oftmals auf Kosten anderer. Da wird dann lauthals im Zug telefoniert. Umso unwichtiger eine Person ist, umso lauter spricht sie über ihre Unwichtigkeiten. Andere tippen wie wild auf ihren Laptops, hacken auf der Tastatur, als handle es sich um eine alte mechanische Schreibmaschine. Noch nerviger sind jedoch jene, die nicht darum wissen wollen, dass man die Tastentöne des Mobiltelefons deaktivieren kann. Da piepst es dann ständig und ein 160 Zeichen umfassendes SMS wird für die Zuhörer zur Nervenprobe. Hinter mir spielt übrigens gerade jemand die Tonleiter auf der Klarinette. Ich würde sie ihm gerne in eine frei zu wählende Körperöffnung schieben! Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant sollte auch oder gerade eben in diesen Situationen gelten. Man soll sich so verhalten, wie man es auch von seinen Mitmenschen erwartet. Ich telefoniere nur in Notfällen in öffentlichen Räumen, Laptops muss ich glücklicherweise nicht mit mir rumschleppen, mein Handy weiss ich auf lautlos zu stellen und meine Klarinette - wenn ich denn eine hätte - würde ich zu Hause oder wenigstens eingepackt lassen. Ich habe es mir angewöhnt, die Leute anzupöbeln, sollten sie diese Regeln verletzen. Wer sich anarchistisch verhält, muss damit rechnen, dass das Faustrecht auch gegen ihn ausgelegt wird. Ich bevorzuge jedoch die intellektuelle Anarchie und so muss ich gestehen, dass Bluetooth-Hacks und Denial of Service-Attacken mit GSM-Jammern bisweilen als probates Gegenmittel gelten können. Es ist zwar technologisch rabiat, moralisch diskutierbar und natürlich unhöflich. Aber es vermag wenigstens jene langen Zugreisen zu versüssen, bei denen man sich über Laptops, Handies und Klarinetten stören müsste.